„Ich schwimme!“ ruft Günter, während er losrennt, nächste Angabe Heiko und – „Mist, den Ball nicht bekommen, ich bin raus!“
Das Geklacker des Tischtennisballs auf der Platte samt zugehörigem Rufen und Gelächter schallt nun zu fast jeder Tageszeit über das Grundstück, regelmäßig gibt es auch abends noch heiße Matches.
Sehr beliebt die „Runde“, bei der so viele mitmachen, bis das Endspiel zwischen den beiden letzten ausgetragen wird. Und dann geht’s wieder mit allen los. („Schwimmen“ bedeutet, dass alle „Leben“ verbraucht sind, sodass der nächste verlorene Ball das Spielende für die “schwimmende“ Person bedeuten wird.)
Der Sommer ist da. Und anders als im letzten Jahr hat es in den letzten Wochen erfreulich viel geregnet, entsprechend grün und blühend ist unser Garten. Die schönste Nachricht der letzten Wochen: Wir sind wieder einer mehr! 79 LeNas gibt es nun, nachdem vergangene Woche unser jüngster Mitbewohner Luca zur Welt kam. Wir alle freuen uns sehr mit der nun fünfköpfigen Familie.
Die Hühner sind ordentlich gewachsen (wann legen sie ein erstes Ei?), über die Liste werden nun entsprechend der Saison Gelierzucker und Draußenspiele gesucht – fast fühlt sich das Leben wieder „normal“ an. Immer noch arbeiten viele im Home Office, aber nun wieder häufig im Wechsel mit einzelnen Bürotagen. Viele von uns sind wieder täglich „draußen“: einkaufen, Sport machen, sich um Angehörige kümmern. Alle Kinder gehen wieder zur Schule, wenn auch nur tage- oder wochenweise. Und ab dieser Woche dürfen auch alle Kitakinder wieder gehen.
Unsere Selbstverwaltung funktioniert wieder, alle vierzehn Tage Freiluft-Plena, die Arbeitsgruppen verabreden sich unter den Eichen. Und auch politische Engagements leben wieder auf – nachdem der jährliche Lauf um die Alster gegen Rechts der Marathonabteilung des FC St. Pauli ausgefallen war, lief man in einzelnen Grüppchen vor Ort, Heiko, Otto und Judy waren dabei.
Es scheint uns also ein einigermaßen normaler Sommer bevorzustehen. Wie es danach weitergeht? Das wissen wir nicht; ich schwanke zwischen Hoffen und Zweifeln. Jetzt gerade, auf dem abendhellen Balkon, wirkt alles gut. Aber bleibt es so? Thommy wird Ende August zusammen mit vier weiteren LeNa-Kindern eingeschult werden. Wie wird ihr Schulstart aussehen? Kommt im Spätsommer oder Herbst die befürchtete zweite Welle? Müssen wir wieder in den „Lockdown“? Wir werden es sehen – und spätestens dann (hoffentlich aber früher oder aber aus fröhlicherem Anlass) – unser Tagebuch erneut fortschreiben.
Polly
Stimmen – Beiträge – Interviews
Wini
In Corona-Zeiten haben wir gelernt, Leben in Statistiken zu fassen. Als Webmaster im Hintergrund habe auch ich es mit Zahlen zu tun. Unser Corona-Tagebuch gibt interessante Auskünfte:
So haben wir im Zeitraum von März bis Juni 2020 an 42 Tagen Beiträge veröffentlicht. Der Rhythmus des Erscheinens reflektiert unsere allmähliche Anpassung an den Umgang mit der Pandemie: Anfangs gab es täglich Tagebucheinträge, mit zunehmender Gewöhnung kamen dann jeden zweiten Tag neue Beiträge, schließlich gingen wir über zu einer lockeren Beitragsfolge, ganz nach jeweiligem Anlass und Bedürfnis.
Tagebucheinträge
Erwachsene haben sich beteiligt
Texte der Redaktion
Kinder haben mitgemacht
Fotobeiträge
Gäste haben uns Beiträge geschickt
Überraschenderweise schrieben die meisten Autor*innen bei LeNa, auch zwei Redakteurinnen, nicht unter ihrem Vornamen, sondern wählten ein Pseudonym. Manche wollten in der Öffentlichkeit des Internet anonym bleiben, aber es entwickelte sich mehr und mehr zu einem Spiel. Es machte Spaß, sich Decknamen auszudenken (zweiter Vorname, Name der Mutter, von Filmstars und Romanhelden). Versteckspielen, Rätselraten, who is who, plötzlich wollten fast alle ein Pseudonym, natürlich auch die Kids. Die eine oder der andere wechselte bei der Namenswahl den Kulturkreis und sogar das Geschlecht. Und irgendwie passte das in die Corona-Zeit – zu den Masken und den neuen Rollen, die wir spielten (Hauslehrer, Brotbäcker, Schneckenforscher, Familienclown…). Und zu dem absurden Theater, in dem wir gelandet waren, einem unbekannten Stück, Ende offen.
Wenn ich mir die Themen des Tagebuchs anschaue, überwiegen die Reportagen aus dem Alltag. Aus den eigenen privaten vier Wänden, aus der Community, soweit sie ohne Plena, Arbeitsgruppen und Geselligkeit funktionierte. Eine Dorfpostille, könnte man sagen, aber mit weitem Horizont. Immer wieder gibt es den Blick in die Nachbarschaft, das berufliche Leben von Bewohner*innen und in die weite Welt, ob nach Spanien, Südafrika oder Ecuador. Das Tagebuch spiegelt die Vielfalt unserer Beziehungen, Talente, gesellschaftlichen Engagements. Sehr oft ist von der Natur die Rede, vom Garten und dem Wald nebenan, vom Wetter, von Vögeln und Insekten. Und vom Leben der Kinder, das überwiegend draußen stattfand, vor unser aller Augen – eine große Freude.
Mich hat in dieser Zeit am meisten bewegt, wie die Kinder intensive Freundschaften geschlossen haben und an diesen schwierigen Verhältnissen gewachsen sind. Es war eine Freude, diese Prozesse zu beobachten und beglückend, wie die Kinder auch uns Erwachsene für sich “neu” entdeckten und an ihrer Welt teilnehmen ließen. Vielen Dank.
Ulla
Tagebuch führen! Mitte März, kurz vor dem shutdown, kam uns die Idee. Wini oder mir, das ist längst vergessen, wie das halt so ist bei alten Paaren. Genau weiß ich nur noch, dass Maries tägliche Mutmach-Sprüche eine Rolle spielten, die Dreizehnjährige beflügelte uns.
Gründlich nachgedacht haben wir nicht, wie wir es sonst als Journalisten tun. Angesichts der sich überstürzenden Ereignisse, voller Angst vor dem Virus und dem Eingeschlossensein, warfen wir kurzerhand das Prinzip über Bord, dass wir in unserer privaten Welt niemals in der Rolle der Journalisten sein wollten. Uns war klar, dass grundlegende Voraussetzungen und Regeln unseres Handwerks fehlen würden: lange Interviews, Reisen, Transparenz, kollegialer Austausch… Trotzdem legten wir los! Es war ein spontaner Impuls, sich nicht unterkriegen zu lassen, der Wunsch, das Unbekannte, was immer auch geschehen würde, bewusst und aktiv zu erleben – und nach Möglichkeit gemeinsam. Ähnlich wie das Singen am Abend, das zeitgleich mit dem Tagebuch begann.
Wir schrieben eine Rundmail, in der wir unser Projekt vorstellten und um Mitarbeit baten. Nach einigen zustimmenden Antworten machten wir uns an die Arbeit. Wir waren ein erprobtes Husband-and-wife-Team, hatten ein gut ausgestattetes Homeoffice. Außerdem freie Zeit, eine Recherche in Masuren, Lesungen, alles fiel aus. Gerade war die neue LeNa-homepage fertig geworden, an diese konnten wir das Tagebuch problemlos andocken. Frauke von nebenan wollte mitmachen, ein Glücksfall. Wir waren also zu Dritt und auf unerklärliche Weise entschlossen und zuversichtlich, etwas Sinnvolles, Nützliches zu tun.
So ganz schiefgehen würde das Experiment nicht, weil wir uns in der Community geborgen fühlen. Ohne dieses Grundvertrauen, würde ich rückblickend sagen, hätten wir es sicherlich nicht gewagt. Und ohne den Optimismus, dass unser gemeinschaftliches Wohnen sich auch in Zeiten von Corona bewähren würde.
Und so war es tatsächlich: Wir haben zusammengehalten und in unserem kleinen Universum vergleichsweise gut überlebt. Das haben wir gemeinsam im Tagebuch dokumentiert. Wenn ich heute darin blättere, erscheint mir Manches schon ziemlich fern: Klopapierwitze, Einkaufen füreinander, Lagerkoller, die Stille ringsum… Unser abendlicher Gesang hingegen ist mir noch ganz präsent, Lieder sind die vielleicht stärkste Kraftquelle bei LeNa. Nahe sind die Mädels, die wochenlang Schnecken beobachteten, oder der 30. März, als Schnee fiel, dieser plötzliche, wilde Ausbruch von Lebensfreude.
Was hat unser Tagebuch bewirkt? Es trug sicherlich dazu bei, dass wir trotz des Kontaktverbotes in Verbindung blieben, Gedanken und Sorgen teilen konnten. Manche Texte erzählen von Aspekten unseres privaten Lebens, die sonst eher im Verborgenen stattfinden, z.B. von Glauben und Spiritualität (in der Osterwoche) oder, anlässlich des 8. Mai, vom Krieg und den Verstrickungen der Eltern und Großeltern, die uns Nachgeborene bis heute belasten. In der Corona-Zeit lernten wir einander in vielerlei Hinsicht neu kennen.
Verwandte lasen mit und freuten sich über die aktuellen Fotos – Mütter, Väter, Großeltern und Enkel, die wir nicht sehen durften, ferne Freunde. Auch Menschen aus der Nachbarschaft, einige haben sogar Texte geschrieben. Das Tagebuch verbreitete sich in einigen Netzwerken, Genaueres wissen wir nicht.
Was noch? Viel Arbeit, an manchen Tagen haben wir Redakteure gestöhnt und geflucht. Hin und wieder Zweifel, z.B. ob einige das Fragen, Fotografieren und die Öffentlichkeit als nervig empfinden. Immer beglückend die Teamarbeit, per Mail und Telefon und trotzdem intensiv. Unvergesslich das Gespräch mit Polly über die Verwendung des Strichpunkts. Was bleibt, ist Dankbarkeit, vor allem das, und die im Tagebuch oft diskutierte offene Frage, wie wir uns verändert haben und die Erfahrungen dieser Krise zum Guten wenden können.
Frauke
„Wie seid ihr im Wohnprojekt denn so durch die Zeit seit Mitte März gekommen?“ Fragen nach scheinbaren Selbstverständlichkeiten rufen ja manchmal interessante Erkenntnisse bei der Antwortenden hervor. Meine Freundin Toni, mit der ich mich lange nicht mehr ausgetauscht hatte über den Verlauf unseres jeweiligen Lebens, stellte mir gestern ein paar solcher Fragen – und hakte nach, wenn sie etwas besonders interessant oder auch irritierend fand. Die Bedeutung dieses Tagebuches für uns als Gemeinschaft ist mir tatsächlich dabei erst so umfassend bewusst geworden.
Während meiner Zeit in der Redaktion (im März und April) habe ich gemerkt, dass mir das Schreiben hilft, mich zu sortieren angesichts einer täglich unsortierten Welt „da draußen“. Das Tagebuch erlaubte es uns allen, dies auf unterschiedliche Weise zu tun und viele dieser zunächst mal individuellen Bewältigungsversuche (und -Erfolge) in einen Erzählzusammenhang stellen zu können. Aus unseren individuellen Bewältigungsgeschichten wird eine gemeinsame vielstimmige, „als Projekt“, als Gruppe, Nachbarschaft.
Nun, nach einigen Wochen „wachsamem Alltag“, halte ich Rückschau (weil Toni mich ja fragt). Nach anfänglich sehr aufregenden, tastenden Versuchen, Kontakte und Aktivitäten im privaten und beruflichen Umfeld wieder zu intensivieren (bzw. sie überhaupt aufzunehmen) bewege ich mich inzwischen schon recht routiniert außerhalb des LeNa-Kosmos. Urlaub, Familienbesuch, Pendelei im Zug zur Arbeit, … – geht alles wieder.
Und da wird mir beim Erzählen eine Dimension unseres gemeinschaftlichen Erzählens bewusst, die ich bisher gar nicht so auf dem Schirm hatte: Das Tagebuch hat es uns ermöglicht, auf Abstand einander teilhaben zu lassen. Dabei sind wir uns nah geblieben. Nun, im Verlauf der zunehmenden, vielfach auch herbeigesehnten Außenorientierung ist dieser interne Kommunikationskanal wieder still geworden. Während ich Toni das erzähle, spüre ich Dankbarkeit, Verbundenheit – und ein wenig Melancholie.
Polly
Als die erste Abfrage kam, wer sich vorstellen könne, an einem LeNa-Corona-Tagebuch zu beteiligen, war ich sofort dabei. Ich schreibe schon immer gerne (denn es fällt mir leichter als das reden) und fand das ein spannendes, neues Projekt – auch wenn ich daran zweifelte, ob das überhaupt jemand lesen würde. Schön, dass ich in dieser Hinsicht eines Besseren belehrt worden bin.
Nach einigen Wochen und mehreren Texten fragte mich Frauke, ob ich mir vorstellen könne, für sie in die Redaktion aufzurücken. Auch das konnte ich sofort. Meine Zeit war zwar knapp, mit Kindern zu Hause und der konstant zu wenigen Zeit für die Arbeit, aber für mich war das eine wunderbare Gelegenheit, einmal mehr über LeNa zu lernen und auch von der großen Erfahrung von Ulla und Wini zu profitieren, die die größte Last dieses kleinen Projektes schulterten.
Eine lange Reihe von Texten sind entstanden, und was für mich am schönsten war, waren die Gespräche, die sich daraus ergeben haben, etwa wenn mich LeNas angesprochen haben oder auch wenn ich einen Text oder Gedanken einer anderen LeNa so toll fand, dass ich dazu nochmals sprechen wollte. Nach meinem Text zum 8. Mai dachte ich lange über meinen im Krieg gefallenen Großonkel nach und darüber, wie wenig ich über die Familiengeschichte der Großelterngeneration weiß. Ich kam, nach einem Hinweis meines Vaters, in einen wunderbaren Austausch mit einer 86jährigen entfernten Verwandten, die mir vieles zu meiner Herkunftsfamilie erzählen konnte. Ohne unser Tagebuchprojekt hätte ich sie wohl niemals angerufen.
Drei Monate ist es her, dass der „Lockdown“ (der gar kein Lockdown war) begann, und alles wirkt schon so fern. Damals begann es gerade, grün zu werden und jetzt ist der Sommer im vollen Gange. Der Abstand ist immer noch da, auch die Masken. Sie gehören zum Alltag und immer, wenn ich in der Stadt oder auf dem Markt bin, frage ich mich, wie lange das jetzt so weiter gehen wird, mit dieser Gesellschaft der Distanz. Vor drei Monaten herrschte der Ausnahmezustand, heute war ich mit den Kindern im Schwimmbad und es war herrlich leer (da nur eine begrenzte Anzahl Menschen eingelassen werden – aber auch, weil die erforderliche Online-Vorab-Anmeldung sicher viele Menschen ausschließt. Die Krise ist immer noch da und verschärft weiter Ungleichheiten, wir Privilegierten merken es nur viel seltener).
Die Zeit bei und mit LeNa zu erleben, hat vieles einfacher gemacht. Ein wenig wehmütig bin ich, dass das Tagebuch nun vorerst endet. Aber alles hat seine Zeit und jetzt, über Sommer, einem Sommer, in dem wir vielleicht doch verreisen und schwimmen und erleichtert sein können, möchten wir uns auch wieder mehr außerhalb LeNas orientieren, auch wenn wir in dieser Krise mehr denn je zu schätzen gelernt haben, in einer so wunderbaren Gemeinschaft zu leben.
Viele Texte und Gedanken meiner Mitbewohnerinnen werden bei mir bleiben. Mit Anne bin ich zum Beispiel erst während der Corona-Zeit so richtig ins Gespräch gekommen und hoffe, dass wir das weiter aufrechterhalten. Mit einigen anderen bin ich in der Tagebuchzeit über bestimmte Gedanken aus einzelnen Texten ins Gespräch gekommen und wir haben Neues übereinander gelernt. Wir singen weiterhin, wenn auch nur noch am Sonntag. Andi hat gerade ein Ausstellungsprojekt vorgeschlagen und es gibt erste Überlegungen, unser ausgefallenes Sommerfest durch eine interne Aktion zu ersetzen. Was auch immer kommen mag, wir werden das Beste daraus machen, da bin ich mir sicher.