Heute war ein „normaler“ Frühlingssamstag bei LeNa. Schönes Wetter, sonnig und warm, schon früh am Morgen buddeln die ersten ein wenig rund um ihre Terrassen, fahren mit dem Rad zum Wochenmarkt oder sind mit Balkon oder Schrebergarten beschäftigt. Nachmittags sitzen dann viele draußen und beobachten, wie die Kinder Verfolgungsjagd spielen, Löcher graben oder mit Matschepampe an der Sandkiste spielen.
Aber etwas war heute auch anders als an anderen Frühlingssamstagen, denn für viele hallte der gestrige 8. Mai noch nach, in den eigenen Gedanken wie auch in den Gesprächen, die sich bei Begegnungen in der Food Coop, im Garten oder auf dem Parkplatz ergaben. Gestern hatten wir uns im Garten für unsere eigene interne Gedenkfeier anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung Deutschlands vom Faschismus getroffen. Einige LeNas hatten ein Programm gestaltet, und es wurden Lieder mit instrumentaler Begleitung gesungen sowie mehrere sehr persönliche Texte gelesen.
Die Runde war groß durch das Einhalten des gebotenen Abstands, doch gleichzeitig war sie eng, denn durch das Teilen der sehr persönlichen Worte und die gemeinsame Trauer, auch Tränen flossen, erlebten wir uns einander sehr verbunden. Und doch war da die Gemeinschaft, in der, ich denke ich darf für alle Anwesenden sprechen, wir uns besonders gut aufgehoben fühlten in diesem Moment. Für viele schön zu sehen war wieder einmal, dass sich alle Generationen beteiligten; viele Kinder vom Grundschulalter an hörten Musik und Worten zu, und sicher fand im Anschluss in den Familien noch manches Gespräch darüber statt, welche Bedeutung dieser 8. Mai für uns als Deutsche hat; warum uns dieses Datum so sehr bewegt.
Neben den vorgelesenen Texten haben weitere LeNas ihre Gedanken zum 8. Mai verfasst; alle diese teilen wir an dieser Stelle, und es ist für mich, die der Enkelgeneration angehört, immer wieder ein großes Geschenk, den älteren LeNas zuzuhören, auch deswegen, weil ich seit nun 15 Jahren keine eigenen Angehörigen aus der Großelterngeneration mehr habe.
Heute blicken Nachkriegskinder auf die Geschichten ihrer Eltern zurück. Grete beschreibt, wie ihre Eltern, beide ganz jung, während der letzten Kriegsmonate Zuflucht im Wendland gefunden haben. Ulla teilt die Geschichte ihrer Mutter und wie sie selbst sich über die Jahre damit auseinandergesetzt hat. Finja-Rieke erzählt aus ihrer Perspektive als „junges Kind von Eltern aus der Kriegergeneration“. Und Max reflektiert darüber, wie sich das Nachdenken über Vater und Großväter im Lauf seines Lebens gewandelt hat.
Polly

 

Stimmen – Beiträge – Interviews

 

Grete

Im Winter 1945 war mein Vater sechzehn Jahre alt. Er lebte in Pommern nahe Stettin. Der Volkssturm wurde mobilisiert, und mein Vater flüchtete vor dem Kriegsdienst zu Fuß, meistens nachts, Richtung Westen. Irgendwann landete er im Wendland auf einem Bauernhof. Der erste überwältigende Eindruck war Essen, es gab zu essen! Innerhalb von knapp drei Monaten hatte er die 25 verlorenen Kilos wieder zugenommen.
Mein Vater war ein großzügiger, offener, fröhlicher Mensch. Aber die deutsche Teilung war für ihn eine Katastrophe, die er nicht akzeptiert hat. Heimat blieb für ihn immer das Land seiner Jugend. Nie habe ich verstanden, warum er den Verlust von unbeschwerter Jugend und Heimat nicht dem Nationalsozialismus und den damit verbundenen Menschen angerechnet hat. Gespräche Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre darüber waren mühsam und kontrovers. Ich, die Anklägerin, die sich nicht in die Lage versetzen wollte und konnte, und er der Verteidiger, der die Angriffe der jugendlichen Tochter anmaßend fand.
Im Winter 1945 war meine Mutter (die aus dem Ort im Wendland stammte, in dem mein Vater nach der Flucht landete) bei einer Verwandten in einer Fleischerei in Berlin zur Ausbildung.
Die Rote Armee besetzte die Stadt, und es gab kaum einen schlechteren Ort in Deutschland für eine Achtzehnjährige als Berlin. Zehn Frauen versteckten sich auf dem Dachboden. Sie hofften, dem Schicksal der Frauen, deren Schreie sie Tag für Tag hörten, zu entgehen. Nachts musste Essen besorgt werden. Als eine von ihnen starb, konnten sie die Leiche erst nach Tagen runter schaffen und verscharren. Irgendwann wurde meine Mutter von der Verwandten mit alten Kleidern ausstaffiert, Kopftuch tief ins Gesicht, das Gesicht schmutzig gemacht. Raus aus Berlin, natürlich zu Fuß. Vier Tage und Nächte immer wieder verstecken, bis sich in der folgenden Nacht eine Fluchtmöglichkeit durch die russische Linie ergab. Die Angst war unerträglich, und der Rückweg ins Wendland ein Höllenweg.
Schicksale von zwei Menschen, die körperlich unversehrt überlebt haben. Das Glück hatten Millionen nicht.
Es liegt 75 Jahre zurück, aber die Traumata leben in der nächsten und übernächsten Generation fort. Wir tragen alle die Verantwortung, dass das nicht wieder geschieht. Ein stets achtsamer Blick hat den Grundrechten zu gelten und denen, die sie jetzt wieder mit Worten und Taten missachten. Ein ebensolcher Blick gilt auch dem Krieg gegen die Natur mit den furchtbaren Folgen für unser Klima. Frieden ist eine andauernde Aufgabe. In uns selbst, in der Familie, dem eigenen Land und der ganzen Welt.
Ich wünsche mir so sehr, dass unsere Kinder nie mehr Ähnliches erleben, was unsere Eltern erlebt haben.
 

Ulla

 
Eine Geschichte, die mich heute bewegt, ist die von Anne, einer jungen Frau mit krausen schwarzen Haaren. Damals war sie 20 Jahre alt, Studentin der Volkswirtschaft. Es ist zugleich die Geschichte zweier mutiger Männer, eines Amerikaners und eines Deutschen, die Annes westfälische Heimatstadt Ahlen vor der Zerstörung gerettet haben. Und vielleicht auch ihr Leben.
31. März 1945, Karsamstag. Am frühen Morgen hängt Anne im Landgestüt Warendorf ihre Uniform in den Spind und desertiert. Seit dem Spätsommer ist sie dort im sog. „Kriegshilfsdienst“, reitet Remonten fürs Militär zu. Pferde sind im Zweiten Weltkrieg immer noch wichtig, für den Transport von Geschützen und die Versorgung der Truppe. Bereiterin zu sein, das ist besser als die Munitionsfabrik, wo sie früher gearbeitet hat. Zudem ist das Gestüt nur dreißig Kilometer von ihrem Ahlener Elternhaus entfernt. Jetzt, als die zweite Panzerdivision der 9. US-Armee näher rückt, muss sie eine Entscheidung treffen: Dem Wehrmachtsbefehl folgen, mit Pferden und Wagen Richtung Lüneburger Heide fliehen oder, wie ihr Instinkt sagt, fahnenflüchtig werden. Mit dem Fahrrad eilt sie auf Feldwegen, sandigen, ihr wohl bekannten „Pätkes“, nach Ahlen. Springt immer wieder in den Graben, sobald sie das Brummen eines Tieffliegers hört, sucht unter Brücken Schutz. Nach Hause! Wie die Lage dort ist, weiß sie natürlich nicht.
Zeitgleich fährt der Oberfeldarzt Dr. Paul Rosenbaum, Leiter der dreizehn Ahlener Lazarette, mit der weißen Fahne des Roten Kreuzes den Amerikanern entgegen. Eine tollkühne, todesmutige Aktion! Im Nacken die Gauleitung, die den Befehl gegeben hat, die Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen. Vor ihm die Geschütze des Feindes, von dem er kein Erbarmen erwarten durfte. Wie durch ein Wunder gelangt er lebend zum amerikanischen Gefechtsstand, trifft auf einen Colonel namens Sidney Hinds – und dieser hört ihm zu. „Im Namen Gottes, der Barmherzigkeit und Menschlichkeit – verschonen Sie diese Stadt mit ihren vielen tausenden Verwundeten und Einwohnern.“ So ist es überliefert, beide Männer haben diese Worte in ihren Tagebüchern festgehalten. Ein „Gespräch unter Christen“ nennen sie es. Danach wird Ahlen kampflos übergeben und zur ersten „offenen“ Stadt erklärt. Andere Orte im Münsterland folgen diesem Beispiel.
Fürs Ahlens 29 000 Einwohner, die Ausgebombten, Flüchtlinge und  tausende Verwundete ist Ostersonntag der erste Friedenstag. Im Falle des Scheiterns wäre Paul Rosenbaum wegen „Vaterlandsverrats“ erschossen worden, wie so viele in den letzten Kriegstagen. Und Anne? Darüber mag ich nicht nachdenken…
Anne ist meine Mutter.

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Schon als junges Mädchen kannte ich die Geschichte ihrer Fahnenflucht, doch ich wollte sie nicht hören. Weil weder meine Mutter, noch mein Vater, der Offizier der Wehrmacht gewesen war, auf meine Fragen nach ihrer Beteiligung an den Verbrechen eine Antwort gaben. Die Anekdote von der Befehlsverweigerung in letzter Minute lenkte in meinen Augen vom Wesentlichen ab. Mit sechszehn legte ich meinen Eltern einen Zettel aufs Bett: „Ich lehne Euch ab, und ich lehne diese Gesellschaft ab.“ Es hat viele Jahre gedauert, bis meine Wut und meine Selbstgerechtigkeit verflogen sind. Bis meine Suche nach Vorbildern, antifaschistischen Vätern und Müttern, mich zurückführte in die eigene Familiengeschichte. Bis aus der linken dogmatischen Studentin eine Historikerin wurde, die vorurteilslos alle Quellen las und aufmerksam zuhörte. Begegnungen mit der Generation meiner Eltern waren mein Beruf. Ein besonderes Geschenk für mich sind immer wieder die Gespräche in der eigenen Generation – mit Polen, Franzosen, Litauern, Russen oder Israelis, denen die dunkle Vergangenheit in die Wiege gelegt wurde. Ob wir Kinder von Tätern oder Opfern sind, unsere Eltern womöglich beides waren oder in keine dieser Kategorien passen, das Reden darüber ist ein großer Stoff für Freundschaft. Kürzlich habe ich meine Mutter noch einmal nach dem 31. März 1945 gefragt. Sie erzählte entspannt und detailliert, und ich hörte mitfühlend zu.
 

Finja-Rieke

 
Als ungewöhnlich „spätes“ Kind (Jahrgang 1972) von Eltern aus der Kriegsgeneration, habe ich gestern zum Anlass des heutigen Gedenktages, auch mit gewissem Unbehagen, das Gespräch zu meinem Vater gesucht. Er war einverstanden, wenn ja auch leider nur telefonisch möglich, ein wenig aus der erlebten Zeit des Nationalsozialismus zu erzählen.
Als Zeitzeuge, 1924 geboren, erinnert er sich: Bereits Ende der 20iger Jahre, zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise, hatte sein Vater als Anstreicher-Meister (heute Maler) keine Aufträge. Die Kunden im Laden seiner Mutter blieben auch aus. Dort gab es Kurzwaren, Textilien, eigentlich alles außer Lebensmittel. Auch sie als Schneidermeisterin konnte nicht recht verdienen. Nahrungsmittel waren knapp. Somit fuhr der Vater mit  dem Fahrrad zu den umliegenden Bauern, die Papierkiste mit Wachstuch abgedeckt, auf dem Gepäckträger. Wäsche, Socken und „Schamisken“ (vorgetäuschtes Oberhemd mit Krawatte) wurden gegen Eier und Speck getauscht. Ab und an wurde beim benachbarten Metzger ein Schwein geschlachtet und beim Verwursten geholfen, Gemüse hatte man im Garten.
Manche Kunden konnten ihre Rechnungen nicht bezahlen, ließen „an die Latte schreiben“…
Somit begann mit dem „Hitlerregime“ zunächst der Aufschwung, vor allem Handwerker wurden unterstützt. „Das Handwerk hat einen goldenen Boden“ so hieß es. Man atmete auf. Auch im „Jungvolk“ war es zunächst schön, gemeinschaftlich Wanderungen und Spiele zu machen, bis man begriff, dass es damit auf den Militärdienst hinauslief.
In dem kleinen Dorf, in dem mein Vater aufwuchs, war im Grunde keine Zerstörung sichtbar, dennoch mussten die Einwohner miterleben, wie auch dort in der Reichspogromnacht Fenster eines jüdischen Ehepaares zerstört wurden. Erst viel später, bei einem Besuch in Berlin, las mein Vater die Namen dieses Ehepaares auf dem bekannten Mahnmal.
Meine Mutter, geboren 1932, als jüngstes von 5 Kindern, hat die komplette Zerstörung ihrer Heimatstadt, bis auf wenige Ruinen, hautnah miterlebt. Immer wieder ertönte die Sirene, alle ließen alles stehen und liegen oder sprangen mitten in der Nacht aus den Betten und rannten ohne alles in den Luftschutzbunker. Ins Dunkle, voller Angst. Einmal kamen sie zurück, und ihr komplettes Haus lag in den Trümmern. Alles verloren, mussten sie umziehen und neu anfangen.
Auch hat meine Mutter einen Teil des Krieges bei Verwandten auf dem Land verbracht. Leider habe ich sie selbst nie befragt, wie sie es dort empfunden hat, weit weg von zu Hause.
1942 kam sie aus Bayern von der Kinderlandverschickung mit „eiternden“ Ohren nach Hause. Eine Operation war unumgänglich, doch Narkosemittel standen damals nicht zur Verfügung.
Später erzählte sie, sie habe die Zähne aufeinander gebissen – solche Schmerzen… Seitdem ist sie jeder OP aus dem Wege gegangen und hat viel Angst durch ihr ganzes Leben getragen.
Für mich persönlich war es als Kind und Schülerin manchmal nicht leicht, mit „Eltern aus einer anderen Zeit“ und eben einer „anderen Erziehung“ wie die meiner Mitschüler*Innen klarzukommen.
Meine Großeltern habe ich nicht kennengelernt, dennoch war ich schon als Kind auf vielen Beerdigungen von Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins.
 

Max

 
Menschen, die Soldaten wurden
Als Jugendliche war ich sehr stolz auf meinen Opa. Wie man mir erzählte, war er als junger Mann ein Sozi. Kurz vor dem Krieg kam es dennoch, dass mein Opa und meine Oma mit meinem damals 7-jährigen Vater aus Sachsen nach Schleswig-Holstein zogen. Unter den Nationalsozialisten hatte Krupp Arbeit zu bieten: Kurbelwellen bauen für Kriegsflugzeuge.
Mein Großvater mütterlicherseits wurde schon als Kind in einer Kadettenschule auf Militär programmiert. So zog er später als Wehrmachtssoldat für die Nationalsozialisten in den Krieg und führte junge Männer nach Polen und Russland. Meine Mutter erzählte von ihm, dass er kurz vor Kriegsende hingerichtet werden sollte, weil er sich mit den von ihm angeführten Soldaten zurückgezogen hatte. Ich war trotzdem nicht stolz auf meinen Großvater. Er symbolisierte für mich ein Soldatentum, das diesen Krieg mit seinen Menschenmorden zu verantworten hatte. Und ich konnte auch nicht einordnen, inwiefern die Erzählung meiner Mutter vielleicht Verbrämung von Geschichte war.
Mein Vater, 1929 geboren, war zu schmächtig für den Krieg. Doch zum Ende, etwa 1944, wurde er doch noch in den sinnlosen Kriegsdienst berufen: Mit anderen Jungen sollte er auf Sylt als Luftwaffenhelfer Flugzeuge der Alliierten abwehren. Er hat mir nie davon erzählt. Als er Ende 70 war, mein Vater war bereits demenzkrank, sagte er einmal zu mir: „Wir waren doch alle Nazis.“ Das hat mich sehr schockiert, für mich war er immer „unschuldig“. Doch er sah das in seiner Krankheit offenbar anders … oder schon sein ganzes Leben lang?
Es ist schon etwas her, ungefähr 13 Jahre, da trafen Kai* und ich in Schweden ein 80-jähriges Ehepaar. Der Mann hieß Raimund, wie mein Großvater, und wie er war er im Krieg. Weil Raimund Ingenieur war, konnte er als junger Soldat bei der Marine „Karriere“ machen. Er erzählte, wie er sich abgrundtief missbraucht fühlte, nachdem der Krieg vorüber war. Als Junge indoktriniert, hatte er den Ideologien geglaubt und war den Kriegstreibern hinterhergelaufen – im vollen Glauben, etwas Richtiges zu tun. Und auf einen Schlag wurde all dies aufgedeckt, und es war nichts mehr richtig. Als er seine Geschichte erzählte, konnte ich mitfühlen, wie es ihm damals wohl ging. Nun, als ich dies erinnere, frage ich mich, wie es wohl meinem kriegsführenden Großvater gegangen sein mag?