Kaffeerunden auf dem Grundstück (mit beschränkter Teilnehmerzahl), Radtouren mit der Familie (Eis-Essen, jetzt wieder möglich), Picknick mit Freunden (jedes Paar mit eigenem Korb). Am späten Vormittag sehe ich zwei Nachbarinnen mit Schwimmzeug quietschvergnügt ins Auto springen. „Anbaden?“ – „Jooooo!“ Im wohlbekannten See, wie kalt mag er noch sein. „Hey, gibt es schon Waldmeister?“ Alle sind erlebnishungrig, die einfachsten Vergnügen sind kostbar.
Auf Reinholds Vorschlag ist eine kleine Gruppe mit dem Rad zum Timelo-Berg gefahren, durch lichtgrüne Wälder. Auch Wini und ich, die Ex-Stuttgarter, sind mit von der Partie, „Victory Hill“, wo der Generalfeldmarschall Montgomery am 4. Mai 1945 die Teilkapitulation des Nordwestens entgegennahm, wollen wir unbedingt sehen. Reinhold und Willy haben das historische Ereignis und die Tour fürs Tagebuch beschrieben.
Für mich wird das Picknick am Gedenkort unvergesslich bleiben – Gugelhupf, Datteln, Prosecco, und dieses Gefühl von Freiheit, der tiefen Dankbarkeit, im Frieden zu leben. Tags zuvor hatte ich ein Video von einer langen Tafel in der Trümmerlandschaft der Stadt Atarib, im Nordwesten Syriens, gesehen. Hundert Menschen und mehr, dicht an dicht, die sich zum Fastenbrechen zusammenfinden. Jetzt, da die Waffen schweigen, Corona zum Trotz. Die ihre Gemeinschaft feiern, kostbare Momente…bald wird der Krieg in der Provinz Idlib weitergehen.
Auch heute geht es im Tagebuch wieder um den Zweiten Weltkrieg in Europa. Zwei aus der Enkelgeneration erzählen, wie bedeutend und immer noch verstörend das Thema für sie ist. Polly hat erneut die Feldpostbriefe ihres Großonkels Fritz aus Frankreich und Russland studiert, einfühlsam nachvollzogen, was der Bauernsohn an der Front erlebte, was ihn bewegte. Martin zitiert aus der Autobiografie seines Großvaters Werner Krusche Passagen über die Schuld der Deutschen, auch seine eigene als Soldat – Gelegenheit, einen evangelischen Kirchenmann kennen zu lernen, der in der DDR eine wichtige Rolle spielte. Diese Feldpostbriefe und die in Buchform veröffentlichte Lebensgeschichte sind kostbare Quellen. Die Enkelgeneration liest sie anders, genauer und verständnisvoller, als die Kinder der Kriegsteilnehmer es vermochten. Und stellt die Frage: Was hätten wir damals gemacht?
Ulla
Stimmen – Beiträge – Interviews
Polly
Großonkel Fritz
Vor einigen Jahren habe ich auf dem Speicher meiner Eltern ein Album mit beigem Papp-Einband gefunden, darauf in schwarzen Buchstaben ein Name: „Fritz G.“. Meine Großtante hat darin die Feldpost meines Großonkels Friedrich, genannt Fritz, eingeklebt, der gleich 1939, 21jährig von der Wehrmacht eingezogen worden war. Die Schrift ist für mich schwer zu lesen, und wenn ich sie lese, höre ich die Worte in meinem heimatlichen Dialekt ausgesprochen. Es gibt auch noch ein dickes Bündel mit Briefen, vielleicht sollten sie auch noch eingeklebt werden – warum das nicht passiert ist? Ich weiß es nicht, und ich kann auch nicht mehr fragen, denn meine Großtante sowie alle meine Großeltern leben schon lange nicht mehr.
+++ „Meine Lieben! Heute will ich Euch mal wieder schreiben. […] Ich kann Euch gar nicht sagen, wie satt ich dieses Leben habe, wenn nur dieser Krieg ein Ende hätte. Wenn das Gesuch bald kommt, dann könnte es noch klappen. Wenn nicht dann soll Papa mit einem ärztlichen Attest und der Genehmigung vom Wehrbezirkskommando, Kreisbauernschaft oder Landratsamt ein neues Gesuch machen. Ich habe hier keine Ruhe mehr. […] Im Frühjahr will und muss ich unbedingt zu Hause sein.“ (2. November 1940) +++
Im Lauf des Jahres 1940 werden die männlichen Helfer auf dem Hof zum Wehrdienst eingezogen, und Fritz ist besorgt, dass die Familie, Mutter und zwei Schwestern sowie der gesundheitlich angeschlagene Vater, die viele Arbeit nicht mehr schafft. Der Betrieb ist damals 50 Hektar groß, dazu kommen Vieh und Weinberge. Und so fragt Fritz, der Sohn, in jedem Brief, welche Arbeiten gerade getan werden, und gibt genaue Anweisungen, was gesät werden oder wie viel Vieh verkauft werden soll. Und immer wieder geht es um seinen Wunsch, Sonderurlaub zu erhalten, um bei der Aussaat helfen zu können. Immer wieder die Enttäuschung, weil seine Anträge abgelehnt werden.
+++ „Mir macht zur Zeit was ganz anderes große Sorgen. [Drei Helfer] sind weg. Was wird werden, wenn Baumann noch weggeht? Wollt Ihr die Arbeit alleine schaffen? Ich überlege schon Tag und Nacht und finde keinen Ausweg. Ich habe gestern Abend an Wagner Herrmann geschrieben und gefragt ob er es verantworten kann, wenn so ein Betrieb stillgelegt wird. (…) Ihr könntet Euch an Onkel Franz wenden, der hat doch Beziehungen. Es muss noch eine Änderung eintreten, denn so kann es auf keinen Fall weitergehen.“ (28 November 1940) +++
Fritz hat zunächst in Frankreich, später in Russland gekämpft. Wenn er in seinen Briefen beschreibt, wo er gerade ist, geschieht dies immer durch die Augen des Bauern, etwa im Sommer 1940, wenn er schreibt, hier lebe „faules Pack“, da es nur Wälder und Weiden gebe. Oder im Frühjahr 1941, im Osten, wenn er die „schönen Trakehner-Hengste und Stuten“ auf „Gütern von 5000 – 6000 Morgen“ erwähnt.
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Martin
Erinnerungen an meinen Großvater
Auf Feiern und Geburtstagen hat er dazu herrlich gedichtet und pointiert politisch kommentiert.
Auszug aus: Werner Krusche: Ich werde nie mehr Geige spielen können. Erinnerungen. Vorwort: Richard von Weizsäcker. Stuttgart, Radius-Verlag 2007
„Wir Kriegsstudenten, die die besten Jahre ihres Lebens in einem von uns Deutschen begonnenen und verlorenen Krieg verbracht hatten, hungerten nach dieser verlorenen, sinnleeren Zeit nach lebendigem Geist: Wir waren wie ausgetrocknete Schwämme, die frisches Wasser aufsaugen wollten. Wir hatten so viel – im Grunde niemals Aufholbares – versäumt. Das Denken geriet wieder in Bewegung, wir haben uns in die Arbeit gestürzt. Ich denke, die meisten von uns Kriegsstudenten wollten sehr bewusst Theologie studieren. … Ja, neu anfangen, das wollten wir. Aber da kam dann etwas dazwischen, was wir bislang aus unserem Bewusstsein verdrängt, aus unserem Denken ausgeklammert, worüber zu sprechen wir uns nicht erlaubt hatten: Auf einmal stand sie unabweisbar vor uns: die Frage nach unserer Schuld. Sie hat sich in unsere Herzen gebohrt. …
Auch unter uns Theologiestudenten gab es hier kräftige Auseinandersetzungen. Natürlich wollte keiner die Schuld von uns Deutschen bestreiten.
In dieser Situation, in der die Kirche in Gefahr war, dass sich aus einem Schuldbekenntnis ein Schuldvorwurf gegen die anderen entwickelt, sich selber Anklagende zu Verklägern der anderen werden und also die mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis eröffnete außerordentliche Chance eines wirklichen Neuanfangs für den einzelnen wie für ein ganzes Volk vertan zu werden drohte, kam Martin Niemöller zu uns Studenten nach Bethel. Es muss im Sommersemester 1946 gewesen sein. Ich weiß sinngemäß nur noch zwei oder drei Sätze aus seinem Vortrag, die ich aber nie mehr vergessen werde. „Liebe Brüder“, hatte er gesagt, „dass ich hier lebendig vor Ihnen stehe, ist ein Zeichen meiner Schuld. Wenn ich in Dachau so laut gegen die unmenschliche Behandlung der Häftlinge geschrien hätte, wie ich es hätte tun müssen, wäre ich als Rauch durch den Schornstein gejagt worden. Dass ich noch lebend vor Ihnen stehe, ist ein Zeichen meiner Schuld.“ Mir hat das damals die Sprache verschlagen…. Hier hatte einer nicht nur allgemein von der von uns Deutschen begangenen Schuld gesprochen, sondern von seiner eigenen, persönlichen, konkreten Schuld: seinem Schweigen und dem damit den gequälten Mitgefangenen schuldig gebliebenen Beistand. Aber Stimmen wie die Niemöllers blieben in der Minderheit. Die große Mehrheit war zwar nicht so uneinsichtig, die Schuld von uns Deutschen einfach zu bestreiten oder zu erklären: wir haben Schuld, aber die anderen genauso.
*Anmerkung der Redaktion:
Werner Krusche (Jg. 1917) prägte dreißig Jahre lang das Leben der Evangelischen Kirche in der DDR. Von 1968 bis 1983 war er Bischof der Kirchenprovinz Sachsen. Ein kritischer Geist, der oft in Auseinandersetzungen mit der SED-Führung geriet, in der Zeit der Wende Mitinitiator der Friedensgebete. Werner Krusche spielte eine wichtige Rolle bei der Aussöhnung der Deutschen mit den Völkern der Sowjetunion, 1984 forderte er die Kirchen beider deutscher Staaten auf, ein Schuldbekenntnis zu formulieren. Er starb 2009 in Magdeburg, sein Enkel Martin war damals 26 Jahre alt.
Reinhold und Willy
Am 9. Mai erkunden wir, eine kleine Gruppe von sechs LeNas, die Spuren der lokalen Geschichte um Lüneburg. Es war eine denkwürdige Fahrradtour durch lichten Frühlingswald zum Timeloberg nahe Wendisch-Evern, ca. 10 Km vom Brockwinkler Weg nach Osten.
Der britische Feldmarschall Montgomery hatte von Großadmiral Dönitz, der „Nachfolger“ Hitlers war, die bedingungslose Kapitulation Deutschlands verlangt. Nachdem die Alliierten mehr als hundert KZs und Vernichtungslager gesehen hatten, verweigerten sie Deutschland zu Recht die Geste eines ehrenvollen Unterlegenen, wie es von den Deutschen gewünscht wurde. Mehrere Verhandlungen zwischen Dönitz in Flensburg und Montgomery in Lüneburg waren nötig gewesen. (Mehr Infos dazu)
Wir waren sehr beeindruckt von dem schlichten Ort am Waldrand zwischen den Wiesen. Zum 4. Mai hätte auch eine Schülergeschichtskundeaktion der Wilhelm Raabe-Schule stattfinden sollen, die aber wegen Corona auf das nächste Jahr verschoben wurde. Den meisten von uns war nicht bewusst gewesen, was für ein wichtiges Kapitel der Weltgeschichte in unserer Nähe zu finden ist.
Auf unserem Rückweg durch das Waldstück Tiergarten östlich der Ilmenau setzen wir unsere Spurensuche fort und fanden endlich zwischen den Bahngleisen den KZ-Ehrenfriedhof mit 165 Grabstellen und 4 Stelen. Kurz vor Kriegsende im April 1945 war es hier im Wald zu einem schrecklichen Inferno an vielen Häftlingen gekommen, die vom KZ Neuengamme nach Bergen-Belsen gebracht werden sollten. Durch Initiative der VVN-BdA Lüneburg wurde seit 2011 auf eine Rekonstruktion dieser Gedenkstätte hingearbeitet. Heute kann man die Fakten dort nachlesen, auf einer Bank verweilen, um der Gräueltaten zu gedenken. So haben wir auf dieser Fahrradrunde beiden Polen der Stimmung des Frühjahrs 1945 nachgespürt.
Ein Besuch dieser für Lüneburger wichtigen Gedenkorte lohnt sich bestimmt. Der Ehrenfriedhof im Tiergarten ist über die Amselbrücke (Ilmenau) zu erreichen; ab Amselweg ausgeschildert und auch gut zu finden. Der Gedenkort Timelo liegt an der Kreisstraße zwischen Deutsch-Evern und Wendisch-Evern ca. 200 rechts oben am Wald.
Die Eindrücke des Tages wirkten noch lange in uns nach.