Ulla
Stimmen – Beiträge – Interviews
Reinhold – Erinnerungen an 1945
An einem Sonntagmorgen radeln wir zu Dritt stadteinwärts. Reinhold wird uns das Lüneburg seiner Kindheit zeigen, das wir – Wini und Ulla – schon so lange sehen wollten. Außer uns ist kaum jemand unterwegs, hinterm Michaelisfriedhof biegen wir rechts ab. In der Rotenburger Straße 24 haben Reinholds Großeltern gewohnt, als Kind war er oft bei ihnen. Ein solides Haus aus dem Jahr 1898 mit einem Riesengarten, der sich bis zum Friedhof erstreckte. Für den „Überlebenskampf“ sehr wichtig, erinnert er sich. Das Wort wirkt aus seinem Munde ganz selbstverständlich, wer 1942 geboren ist, hat ihn erlebt.
Bald sind wir in der Nähe der Michaeliskirche. Kopfsteinpflaster, zwischen den Steinen blüht gelb, von Autos und Fußgängern ungestört, der Löwenzahn. Hinterhöfe, über deren Mauern der Flieder schaut. Vor den Haustüren Buschrosen mit dicken Knospen. So still und schön haben wir das Viertel noch nie erlebt, die Vergangenheit scheint näher gerückt. Reinhold erzählt von „Kippel-Kappel“, einem Mannschafts-Spiel, das fast alle norddeutschen Kinder kannten. Man brauchte dazu ein zugespitztes Stück Holz (Kippel) und einen Knüppel (Kappel) – und Kopfsteinpflaster. „Ostfriesenbaseball“ wurde es mancherorts genannt, nachzulesen bei Wiki.
Hier war das Fischgeschäft, dort der Rossschlachter, Reinhold hat die Gerüche noch in der Nase. Sein Elternhaus in der Unteren Ohlinger Straße 8 ist ein Schmuckstück, die ALA (Arbeitskreis Lüneburger Altstadt) hat es fachgerecht restauriert und im Inneren modernisiert. „Früher wollte hier niemand wohnen“, sagt er und zeigt ein altes Foto, „Häuser ohne Toiletten, die Fäkalien wurden in Kübeln gesammelt und abgeholt.“ Bis zum 10. Lebensjahr hat Reinhold hier gewohnt, mit den Eltern und dem jüngeren Bruder, der im Juni 1945 zur Welt kam.
An dieses Jahr, in dem der Krieg endete, hat er noch einige wenige Erinnerungen. Zum Beispiel an die Verdunkelung, dass abends die Fenster zugehängt wurden, um den alliierten Bombern das Auffinden der Stadt zu erschweren. Einige Male musste er mit dem Vater und der hochschwangeren Mutter den Luftschutzbunker am Sande aufsuchen. Ein ziemlich weiter Weg für den noch nicht Dreijährigen, und auch „die Angst da unten“ hat er niemals vergessen. Auch in der Nacht vom 7. April, als der Lüneburger Bahnhof getroffen wurde, war er im Bunker.
Ansonsten ist ihm wenig im Gedächtnis geblieben, nicht mal die fremden Soldaten. Oder der Name Montgomery, des britischen Feldmarschalls, der am 18. April Lüneburg eroberte und am 4. Mai auf dem Timeloberg die Kapitulation des deutschen Nordwestens entgegen nahm. Auch nach dem Krieg wurde er nie erwähnt, obwohl sein Vater einige Jahre bei den Briten als Dolmetscher arbeitete. (Von Beruf war er Industriekaufmann, englisch hatte er als junger Mann gelernt, als er in Chicago arbeitete). Unvergesslich allerdings waren die Apfelsinen und „Tschuing Gam“, die sein Vater mal aus der Kaserne mitbrachte.
„Eine kindgerechte Kindheit“, sagt er. Sehr einfach, mit vielen Freiräumen. Streunen auf dem Kalkberg, Schwimmen in der Ilmenau. Die Sommer verbrachte er bei Verwandten im Wendland, hütete zusammen mit den Cousins die Schafe.
Am Ende unserer Tour zeigt uns Reinhold den Eingang des Telschowbunkers, zwischen Lösegraben und Schießgrabenstraße, wo sich der Gaubefehlsstand der NSDAP befand. Er ist halb überwuchert von Gebüsch und nicht zugänglich.
Dieser Sonntag in Corona-Zeiten ist ein ganz besonderes Geschenk.
Gesine – ein Interview
Über die Umstände ihrer Geburt im letzten Kriegswinter weiß sie ziemlich gut Bescheid, natürlich nur vom Hörensagen. Eigentlich sollte Gesine im heimatlichen Berlin zur Welt kommen, doch weil dort die Bomben fielen, floh ihre hochschwangere Mutter im Dezember 1944 zu Verwandten nach Norddeutschland, zuerst zu ihren Großeltern nach Uelzen und weiter in die Gegend von Rotenburg/Wümme, nach Heeslingen, wo ein Onkel Pastor war.
Im Pfarrhaus gab es genügend Platz und reichlich Lebensmittel, weil die Bauern dem verehrten Geistlichen und seiner Familie gern etwas zukommen ließen. Es heißt, die Erstgebärende sei bei Schnee und Eis mit dem Pferdewagen, in Begleitung der Dorfhebamme, ins fünf, sechs Kilometer entfernte Krankenhaus gefahren. Mit ihren 23 Jahren habe die Mutter vom Kinderkriegen nicht allzu viel gewusst, noch als die Wehen begannen, geglaubt, das Baby komme aus dem aus dem Bauchnabel raus. Vermutlich verlief die Geburt normal, nähere Angaben, so Tochter Gesine, ließ die Prüderie wohl auch später nicht zu.
Jedenfalls erwies sich der Heeslinger Zufluchtsort als komfortabel und gastlich, vor allem der große schöne Pfarrgarten ist Gesine unvergesslich. Ein Bild davon hängt heute in ihrem Lüneburger Wohnzimmer (siehe Foto), ein Onkel hat es damals gemalt. Im Pfarrhaus ließ sich gut warten, bis der Vater aus dem Krieg heimkehren würde. Tatsächlich kam er, schon im April 1945 war er plötzlich da. Blieb für eine Nacht, die ausreichte, ein zweites Kind zu zeugen. Und musste sich dann, weil er desertiert war, verstecken. Am folgenden Tag stellte er sich und geriet in englische Kriegsgefangenschaft, die bis zum Juni 1946 dauerte. Die Familie war glimpflich davon gekommen!
Am liebsten wären Gesines Eltern nach Berlin zurück, doch ihr altes Zuhause lag im Ostteil, im sowjetischen Sektor. So blieben sie schweren Herzens, wo sie waren, und gründeten nach der Währungsreform 1948 eine Gärtnerei, von dem „Kopfgeld“, das ihnen zugesprochen wurde kauften sie die Scheiben für Mistbeete. Zu fünft waren sie inzwischen, Gesine hatte noch einen Bruder und einen weiteren bekommen.
Als die Kinder heranwuchsen, haben die Eltern mit ihnen über die Nazizeit offen geredet. Der Vater hat aus seiner Mitgliedschaft in der NSDAP kein Geheimnis gemacht und sich zum Pazifismus bekannt. Die Mutter, lange eine begeisterte Mitläuferin, war ähnlich selbstkritisch. Ihrer beider Sinneswandel hat wohl schon im Laufe des Krieges begonnen, dabei spielte Familiengeschichtliches eine Rolle: bei ihm jüdische Vorfahren, bei ihr, dass beide Eltern und ein Onkel gehörlos waren, ihr Leben als „unwert“ galt und gefährdet war. Möglicherweise wurde ihre Mutter, Gesines Großmutter, die 1942 unter ungeklärten Umständen starb, durch eine Spritze zu Tode gebracht.
Carla und Fritz – ein Brief von lieben Nachbarn