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Susi
Am Freitagnachmittag, den 13.03.20, kam die E Mail: “Einrichtung sofort schließen bis zum 30.04.20”
Ich arbeite in einer städtischen Einrichtung der Jugendpflege im Stadtteil Kaltenmoor, dem Aktivspielplatz. Zu unserer (Haupt-) Zielgruppe zählen Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren. Auch Familien sind willkommen. Der Aktivspielplatz war auch im März schon gut besucht.
Wie jedes Jahr, kommen beim sonnigen Frühlingswetter und in den Ferien immer mehr Kinder und Familien in unsere Einrichtung. Sie nutzen vor allem das Außengelände zum Spielen und schätzen unsere Begleitung.
Jetzt ist auch hier geschlossen. Ähnlich wie bei vielen anderen, kam auch mir der Gedanke, endlich mal Zeit zu finden, Liegengebliebenes abzuarbeiten. Aber wie können wir die Beziehung zu den Kindern aufrechterhalten, wie kann soziale Arbeit in diesen Zeiten möglich sein. Im Netz finde ich viel zu digitaler Jugendarbeit, aber unsere Klientel hat überwiegend (noch) kein Smartphone. Also drucken auch wir Ausmalbilder und Rätsel aus und werfen sie zumindest unseren “Stammkindern” in den Briefkasten. Einige bitten darum, dass ich Bescheid gebe, wann ich komme, damit sie aus dem Fenster winken können. Oder sie nehmen den Briefumschlag direkt entgegen. So können wir uns wenigstens kurz sehen.
Die Kinder bewältigen einen heraus fordernden (Familien-)Alltag, gerade
jetzt: Schule, Kita, Hort, Jugendzentrum und Aktivspielplatz bleiben für lange Zeit geschlossen. Viele Familien in Kaltenmoor leben in beengten Verhältnissen, die Spielplätze zwischen den Hochhäusern sind geschlossen.
Schon vor Ostern kam die Stadtverwaltung auf die Idee, das Außengelände für einzelne Familien zu öffnen. Wir vergeben Termine an Familien ohne Garten, bevorzugt werden sozialbenachteiligte. Bei Bedarf leisten wir Sozialberatung, am besten begleitet die Familienhilfe (mit Abstand) die Kinder und Eltern während der Spielzeit. So üben wir uns schon seit drei Wochen in sozialer Arbeit mit Abstand, um Nähe herzustellen. Manche Kinder schenken uns Zeichnungen und kleine Geschichten, wir hängen sie ans Eingangstor. (siehe Foto)
Verlässliche Beziehungen stärken, einen vertrauensvollen Umgang zu pflegen und ein soziales Miteinander in Zeiten von Corona zu gestalten, sind die sinnstiftenden Momente, die mich zufrieden einen neuen Arbeitsalltag meistern lassen.
Raeume Wohnprojekt
Bei uns hat sich im Alltag viel verändert: Während sonst die meisten Projektmitglieder viel unterwegs sind, sei es für Studium, Erwerbsarbeit, politisches Engagement oder Privates, sind wir nun in der Regel alle auf dem Hof. Die lange Tafel reicht beim Abendessen manchmal nicht aus, wenn alle gleichzeitig eintrudeln. Wir schwanken irgendwo zwischen Gruppenkoller und Ferienlager: Einerseits haben auch wir mit Homeoffice und Organisation von Kinderbetreuung zu tun (was uns derzeit deutlich die Notwendigkeit von baulichen Schallschutzmaßnahmen und gemeinschaftlich nutzbarer Arbeitsräume vor Augen führt). Auf der anderen Seite befinden wir uns in der wahnsinnig privilegierten Situation, dass wir diesen großen Hof zur Verfügung haben: Wir haben genug Platz, um uns zu bewegen, zu beschäftigen oder uns aus dem Weg zu gehen. Wir sind eine Gemeinschaft und daher nicht so sehr mit Themen der Einsamkeit und Isolation konfrontiert. Wir haben ein Vertikaltuch in der alten Eiche aufgehängt, eine Slackline gespannt, die Gemüsebeete vorbereitet und unendliche Raummeter Holz gehackt. Dazu gibt es Gemüsepfanne über dem offenen Feuer zubereitet.
Gleichzeitig ist uns schmerzlich bewusst, dass nicht alle Menschen dieses Glück haben. Wir sind auf der Suche nach Möglichkeiten, trotz Kontaktsperren politisch aktiv zu sein. Als eine der ersten Maßnahmen haben wir ein Banner gemalt und gut sichtbar an unserer Scheune aufgehängt. Damit wollen wir auf die Situation von Geflüchteten an den europäischen Außengrenzen und in den Lagern auf den griechischen Inseln aufmerksam machen. Ein denkbar kleiner Beitrag, aber trotzdem ein Symbol für Solidarität. Hier könnt ihr es euch anschauen.
Wir tauschen uns in der Gruppe regelmäßig über unseren Umgang mit der Situation aus. Da wir uns in der Praxis als ein gemeinsamer Haushalt verstehen und Alltag und Infrastruktur darauf ausgerichtet sind, ist für uns klar, dass wir die Verantwortung, die diese Pandemie erfordert, solidarisch gemeinsam tragen wollen. Wir haben unsere Kontakte „nach Außen“ auf ein Minimum reduziert. Unsere sonst öffentlichen Haus- und Hoftage finden zurzeit nur intern statt. Das Hoffest, das für den 20. Juni geplant war, müssen wir leider absagen. Wir planen gerade, es anlässlich unseres 5-jährigen Jubiläums Anfang Oktober nachzuholen.
Auch wenn das Leben in anderen Bereichen sehr entschleunigt oder verlangsamt ist, geht es beim Stallausbau stetig voran. Mittlerweile ist die Baustellenzufahrt fertig und wird auch genutzt. Unser Hof ist wieder erfreulich baggerfrei – sehr zum Leidwesen einiger Baggerfans (nicht nur die Kinder waren fasziniert). Wir haben jetzt eine – inzwischen sogar getrocknete – Bodenplatte! Jetzt kann es losgehen mit Holz- und Maurerarbeiten. Eindrücke von der Baustelle teilen wir regelmäßig über unseren Twitteraccount @raeumehof – folgt uns doch gern, wenn ihr noch mehr von uns lesen wollt, oder schaut auf unsere Website. www.raeume.org.
Jutta (Protokoll eines Gesprächs)
Schauplatz war das thüringische Städtchen Vacha im Landkreis Eisenach. Dort lebte Jutta mit ihrer Mutter und den beiden älteren Schwestern. Während des Krieges waren sie aus Stettin vor den Bombenangriffen in die stille Provinz geflüchtet. In Vacha wohnte ein Onkel. „Es ging mir gut, ich fühlte mich behütet.“ Nicht mal das Wort „Krieg“ kam in ihrem Alltag vor, obwohl der Vater Soldat in Russland war. Zu essen war genug. Denn ihre Mutter arbeitete in einer Bäckerei, auch die achtjährige Schwester half dort mit. Die älteste der drei Mädels, gerade erst zehn, schuftete auf einem nahen Bauernhof. Als Lohn erhielten sie Naturalien; mit Milch, Brot und Kartoffeln war die Familie gut versorgt. Jutta als Nesthäkchen blieb vom Ernst des Lebens verschont.
Als am Ende der Krieg doch noch nach Vacha kam, hat sie von den Kämpfen kaum etwas mitbekommen. Nur diese eine Szene, der Jubel der Sieger, ist geblieben. Aber waren es wirklich Russen? Und nicht die Amerikaner, die Anfang April Thüringen befreiten – auch Vacha? Anfang Juli 1945 übergaben sie das Territorium an die sowjetischen Streitkräfte. Denkbar, dass die erinnerte Szene nicht im Frühjahr, sondern im Sommer spielte, es also wirklich Russen waren. Oder dass sich zwei Ereignisse, der Einmarsch der Amerikaner und der Einmarsch der Russen, in der kindlichen Erinnerung miteinander vermischten?
Im Frühjahr 1946 wurde Jutta in Vacha eingeschult, im Herbst schon zog die Familie ins Oldenburger Land. Dort war der Vater gelandet, der aus russischer Gefangenschaft entlassen worden war. In der britischen Besatzungszone fühlten sie sich sicher. In die alte Heimat, nach Stettin, konnten sie nicht zurück, sie gehörte nun zu Polen.
Während der gesamten Schulzeit war vom Nationalsozialismus nie die Rede. Auch Juttas Vater erzählte nichts von seinen Kriegserfahrungen. Erst später, aus Romanen, erfuhr Jutta von den Verbrechen und den Schicksalen der Opfer.
Vor drei, vier Jahren hat sie Vacha noch einmal besucht, dabei wurden alte Erinnerungen wieder wach. Zum Beispiel an die Wäschebleiche in der Nähe des Friedhofs, die sie als Kind bewachen musste. Oder an den Gestank aus der Gerberei, wo die Felle in der Sonne trockneten. Die Schrecken der Kriegsjahre blieben glücklicherweise in der Versenkung.