„Unsterblichkeit deutlich gewachsen“ titelt tagesschau.de. Moment, was? Unsterblichkeit? Ich lese die Zeile noch einmal, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen, und dann erst erkenne ich, was da wirklich steht: „Übersterblichkeit“, nicht Unsterblichkeit. Ja, Unsterblichkeit im Hinblick auf COVID-19, das wünschen wir uns gerade alle so sehnlich. Aber noch müssen wir aus- und durch- und zusammenhalten, bis es irgendwann dann einen Impfstoff geben wird.
Interessant, wie viele neue Begriffe für uns nun ganz selbstverständlich werden. FFP2, Pandemie, Virologie, Infektionsketten – und nun Übersterblichkeit. Dies bedeutet, dass innerhalb eines bestimmten Zeitraumes mehr Menschen sterben als im Durchschnitt. Für Europa ist das gerade der Fall. Für Deutschland nicht. Noch nicht, denke ich. Gestern verwies Aljoscha uns auf den Drosten-Podcast mit dem Titel „Verspielen wir unseren Vorsprung?“
Unsterblich ist auch leider unser Rasen nicht. Noch ist der da, aber wie im letzten Jahr zeigt er schon bedenklich viele Lücken. Die andauernde Trockenheit hinterlässt ihre Spuren, und neben allen Corona-Sorgen schauen wir zwischendurch immer mal wieder zum Himmel und fragen uns besorgt, wann es wohl wieder regnen wird. Doch ansonsten geht unser Alltag bei LeNa seinen Corona-bedingten Gang. Martins Geburtstag wird in kleiner familiärer Abstands-Runde im Garten gefeiert. Einige Kinder suchen den Topf voll Gold beim Rasensprenger (heißt, sie entdecken, wie man mit Wasser und Sonne einen Regenbogen zaubern kann). Über den Mailverteiler werden Materialien zum Masken-Nähen angeboten und gesucht.
Ist es heute ruhiger im Garten als sonst, oder bilde ich mir das nur ein? Ich bin müde, müde von allem, was gerade passiert. Und müde angesichts so vieler Fragen, auf die wir gerade keine kurzfristigen Antworten haben. „Wenn wir jetzt alle Mundschutz haben, dann können wir doch mit dem Zug zu Oma und Opa fahren!“ ruft Thommy begeistert, nachdem ich ihm eine genäht habe, und ich mag ihm nicht schon wieder erklären, warum das so einfach nicht ist, weil es mich so traurig macht. Eine Freundin, die in einer deutschen Großstadt junge Frauen ohne Schulabschluss unterrichtet, schreibt mir: „Unsere Mädels sind die Systemverlierer, von denen immer wieder die Rede ist. Home-Schooling am PC – das ist nicht deren Problem. Deren Problem ist, dass sie häufig nur mäßig funktionierende Handys haben, aber sicher keinen PC, und, wenn es ganz übel ist, sich ein Zimmer zu sechst teilen. Das Problem, möglichst wenig raus zu dürfen, endet dann häufig in Gewalttätigkeit.“
Aber dann, gegen Abend, kommt doch Leben in den Garten. Aljoscha leitet eine kleine Singrunde, mit viel Abstand und zahlreichen Zuhörenden auf Balkonen und Terrassen. Dazwischen laufen einige Kinder umher. Fast wirkt es normal – aber jeder und jede von uns hat auch immer mal einen dieser Tage, an denen alles schwerer scheint als sonst.
Ich konnte mich beim ersten Lesen daher sehr gut mit dem Beitrag von Ulrike Steinert aus der benachbarten Psychiatrischen Klinik (PKL) identifizieren, insbesondere mit dessen Ende. Auch Dr. Mark Burlon, der ärztliche Leiter, berichtet über den Alltag in der PKL während Corona.
Anna hat darüber geschrieben, was und wie man der gegenwärtigen Krise auch Positives abgewinnen kann. Ein schöner Text, der mich, nachdem ich ihn beim Schreiben dieses Textes erneut gelesen habe, etwas zuversichtlicher gestimmt hat, als ich zu Beginn des Schreibens war.
Polly

 

Stimmen – Beiträge – Interviews

 

Anna (die Liebste von Broder)

Coronazeit- schwere Zeit? Und was ist da noch?
Könnte es sein, dass diese Zeit der Unsicherheit und Einschränkungen auch positive Aspekte mit sich bringt? Vielleicht sogar so positiv, dass ich sie auch nach der Krise beibehalten und ausweiten möchte?
Was bedeutet es für mich, dass mir von außen auferlegt wird, meinen Beruf nur noch fragmentarisch ausüben zu dürfen, mich nicht frei überall hinbewegen zu können, ohne Kino, Chor, Fortbildung, Sauna, etc.  klarkommen zu sollen. Umarmungen kann ich immerhin noch mit meinem Liebsten genießen… Was bedeutet es für mich, nicht zu wissen, was richtig und was unsinnig ist und mich auf eine, erst mal sehr unangenehme Art dem Leben ausgeliefert zu fühlen?
Ich empfinde es als große Chance, mich genau dem Nichtwissen zu stellen. Wenn ich genau schaue, dann ist mir klar, dass ich auch vorher nur gedacht habe, ich könnte wissen, wie das Leben funktioniert. Als hätte ich einen echten Einfluss darauf, wie sich Dinge entwickeln. Als könnte ich durch vielerlei Ablenkungen vermeiden zu spüren, dass ich keine Ahnung habe, wann ich sterben werde. Die jetzige Zeit rückt genau diese Ungewissheit direkt in mein Gesichtsfeld und bietet so viel weniger Möglichkeiten, ihr auszuweichen. Das ist erst mal unangenehm. Wenn ich mich dem stelle und durch meine Gefühle, wie Wut, Angst und Verzweiflung, die das auslöst, hindurch sinken lasse, sie annehme, anstatt sie durch Scheinwissen abzuwehren, dann bietet sich mir die Chance für Gelassenheit. Gelassenheit und Vertrauen darin, dass das Leben immer irgendwie weitergeht und ich die Kapazitäten habe, dem zu begegnen. Es bietet mir die Möglichkeit, immer mehr im Hier und Jetzt zu fühlen und anzunehmen, was genau jetzt da ist und weniger zu versuchen, die Zukunft zu kontrollieren. Ich finde darin eine tiefe Ruhe und einen Frieden. In diesem Frieden keimt die Gewissheit auf, dass das Leben unendlich freundlich ist und mir immer das Richtige zur richtigen Zeit begegnet.
In diesem Sinne bin ich dieser und jeder anderen Krise dankbar. Dankbar dafür, dass sie mir vor Augen führt, wie ich Sicherheit in der Unsicherheit wirklich finden kann. Das ist für mich ein wundervoller Nährboden für eine scheinbar grundlose Freude am Dasein Und genau diese Qualität möchte ich nach der Krise weiter mit Leben füllen, auch wenn ich weiß, dass mein Verstand auch gerne immer wieder meint, Sicherheit durch Kontrolle erreichen zu können. Mein Nervensystem wird mir sehr deutlich spiegeln, auf welchem Weg ich mich befinde. Kontrolle ist anstrengend und verengt meinen Blick, Vertrauen entspannt und öffnet mich und macht mich handlungsfähiger.
Und so genieße ich persönlich die Entschleunigung die sich mir z. Zt. bietet und freue mich als Gästin immer wieder Anteil an der LeNa Gemeinschaft haben zu dürfen. Mit den vielen kleinen Begegnungen, dem abendlichen Singen, dem Zusammenrücken im Abstandhalten, dem Füreinander da sein. All das habe ich bei den LeNas schon vorher wahrgenommen, und die Krise scheint all das auf sehr schöne Weise zu verstärken.
Globalgesellschaftlich wünsche ich mir, dass die neue Wertschätzung für die vielen Helfer darin mündet, dass sich eine Neubewertung von Arbeit ergibt.
 
 
 

Dr. Marc Burlon/ Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie (KPP) und Ärztlicher Direktor

Über die Notwendigkeit des Atmens
Das SARS CoVirus-2 hält unsere gesamte Klinik in allen Arbeitsbereichen wortwörtlich in Atem. Bereits vor dem Erlass am 16.03.2020 (Aufforderung, den routinemäßigen Klinikbetrieb einzustellen und nur noch Notfälle zu behandeln) haben wir sorgenvoll unter anderem die Berichte aus Spanien und Italien verfolgt. In der Psychiatrischen Klinik Lüneburg (PKL) versuchen wir seit dem Ausbruch von  SARS CoVirus-2 die psychiatrische Versorgung aufrecht zu erhalten, mit all der erforderlichen Infektionsprophylaxe. Jeden Tag besprechen wir die aktuellen Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und die augenblicklichen Fallzahlen aus der Region, um unserem  Auftrag gegenüber den Mitarbeiter*innen und Patient*innen gerecht zu werden. Wir sind erfreut, wie gut die Mitarbeiter*innen und Patient*innen mit der Krise umgehen und gegenseitige Rücksicht einen hohen Stellenwert hat. Darüber hinaus bemerken wir aber auch, dass die Krise nicht spurlos an uns allen vorbei geht: Einsamkeit, Ängste, Verlust des Arbeitsplatzes, Sorgen um Angehörige, Sorgen um sich selbst usw. Hygienemaßnahmen fordern nicht nur zu Distanz auf, sie greifen auch in Persönlichkeitsbereiche ein. Diese Balance zwischen Würde und Sicherheit für alle an der Therapie Beteiligten ist ein Projekt, das langen Atem von uns Allen erfordert. Als psychiatrische Institution sehen wir uns weiterhin in der Verantwortung die therapeutische Beziehung zu halten (im direkten stationären Kontakt, in zahlreichen Telefonaten, in der Zu Hause Behandlung,…usw.). Wir arbeiten strikt nach den vorgegebenen Hygienerichtlinien in unserem jeweiligen Bereich (Station, Ambulanz, Heimbereich, Verwaltung…) und versuchen immer wieder eine höchstmögliche Transparenz der jeweiligen Information und  Argumentation herzustellen. Maßnahmen müssen logisch sein, aber ohne gegenseitiges Vertrauen geht nichts. Dann besteht die Chance auf Umsetzung und somit Sicherheit. Wir überlegen täglich neu, welche Kontakte vermeidbar und welche notwendig sind. Wir sind weiterhin zuständig für die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialen Problemen, und wir haben Sorge, dass Menschen sich aus Angst vor Infektionen zurückhalten und notwendige Therapien verschleppen. Wir laden dazu ein, diese Entscheidung mit uns zu tragen. In einem atemberaubenden Tempo haben wir es innerhalb der gesamten PKL geschafft, die Klinik mit all ihren verschiedenen Arbeitsbereichen auf den Notfall vorzubereiten.
 

Ulrike Steinert/ Fachkraft für Psychiatrische Pflege und Teamleitung für die Hometreatment Station der KPP

Hände
Als Krankenschwester arbeite ich täglich mit Körperlichkeit. Physische Nähe ist eine oftmals  berufsgruppenspezifische Besonderheit: meine stützende Hand an der Schulter eines kraftlosen Menschen, meine Hand in der Hand eines hilfesuchenden und klammernden Menschen, meine Hand am Rücken eines weinenden und bebenden Menschen, meine Hand mit einer anderen Hand zur Begrüßung und zum Willkommen, meine Hände, die die Gesichter meiner Lieblingskolleg*innen umschließen, meine Hand die Halt bietet…Meine Hände haben seit geraumer Zeit eine physische Kommunikationspause. Meine Hände trennen nun im Alltag mindestens 1,5 Meter vom jeweils anderen Menschen. Als mich die Meldungen über die Auswirkungen der SARS CoVirus-2 Erkrankung erreichten, zitterten meine Hände. Die Sorge um meine Lieben im Privaten und meine Sehnsucht nach ihnen trieben mir Tränen in die Augen. Seitdem suche ich immer wieder händeringend eine Form der Normalität. Um mich herum im Krankenhaus sehe ich fast ausschließlich Menschen, die sich unter anderem mit Mund-Nasenschutzmasken und  Abstand voneinander bewegen. Insgesamt sehe ich zudem deutlich weniger Menschen, da sich einerseits weniger Menschen in Behandlung im Krankenhaus befinden, und ich mich andererseits kaum noch in anderen Arbeitsbereichen aufhalte. Meine Hände klicken nun häufiger Mails an. Das tägliche Protokoll des Infektionsmanagements sagt ihnen, was sie zu tun und zu lassen haben, um mich und andere Menschen zu schützen. Meine Hände sind permanent in der Nähe von Wasserhähnen und werden trotz toller Cremes dünnhäutiger. In der Begegnung mit anderen Menschen geht meine Hand manchmal fragend nach oben, manchmal klatsche ich bestätigend, zur Begrüßung lege ich meine rechte Hand auf Herzhöhe, zum Abschied winke ich, zum Bedanken lege ich beide Hände über Kreuz auf meine Brust, zum Halt-geben muss ich an mich halten und meine Hände bei mir lassen. Ich brauche für mich und meinen Alltag weitere andere Umgangsformen als meine herkömmlichen, weil mir die Hände gebunden sind und meine Mimik durch die Mund-Nasenschutzmaske nur noch meinen Blick freigibt. Vor kurzem habe ich mich beim Verlassen der Klinik von meiner Verzweiflung hinreißen lassen und weinerlich stöhnend aufgerufen „Das ist doch alles eine riesengroße Sch…“. Da hat mir (aus meiner „blinden“ Sicht) plötzlich aus dem Nichts eine junge Frau entgegnet: “Ach, das geht doch auch wieder vorbei – ich feier‘ Dich, Frau Steinert!“ Und sie hat mir dabei mit ihren erhobenen Händen zwei „Victory-Zeichen“ entgegengebracht. Dafür reichen unsere Blicke und Münder auf Distanz aus = wir können uns ansehen und ich kann aufrichtig „Danke“ sagen – auch mit Maske.
Manchmal sehe ich in Tagträumen meine Hände und die der anderen Menschen in der Zeit „nach Corona“. Dann trommeln viele Hände, um sich Gehör zu verschaffen und bilden Fäuste, um Forderungen zu stellen: Wir Alle brauchen mehr Menschen für mehr Möglichkeiten im Gesundheitssystem. Und die gesundheitliche Hilfe darf niemals an irgendwelchen Grenzen aufhören. Ein Virus ist grenzenlos und unsere Solidarität sollte es auch sein, denn der Zugang zum Hilfesystem und zu sicheren Lebensverhältnissen ist ein teilbares Privileg.